Der nackte Wahnsinn

Premiere:  02.06.2018 - Freilichtbühne Greven-Reckenfeld

 

Westfälische Nachrichten am 04.06.2018.

„Der nackte Wahnsinn“ feiert Freilichtbühnen-Premiere

So viel Tempo war noch nie
Reckenfeld - Crazy! Der „Nackte Wahnsinn“ hatte am Samstag eine turbulente Premiere auf der Freilichtbühne.

Von Stefan Bamberg

Irgendwann hinterlässt dieses ganze Chaos halt Spuren. Beim Ehepaar aus Reihe drei ist es schon zur Pause so weit: Der letzte Gong vor der zweiten Halbzeit – und irgendwas ist hier komisch. Die empörte Analyse folgt auf dem Fuße: „Schatz! Wir sitzen falsch!“

Schatz guckt sich um. Wirkt ebenfalls leicht verschreckt. Bereitet dann eilig den Umzug vor. Und schmunzelt: „Na, kein Wunder. Da oben weiß ja auch keiner mehr, was los ist.“ Da oben ist die Bühne – und normalerweise wäre Schatz‘ Kommentar wohl das Todesurteil für jeden Theaterbesuch. Aber was heißt heute schon „normalerweise“? Denn heute gehört das Durcheinander, der Tumult, der Irrsinn zum Programm. Wer wo wann mit wem, und vor allem: Warum? Keine Ahnung. Es ist einfach: Der nackte Wahnsinn! Am Samstagabend auf der Freilichtbühne.

Das neue Erwachsenenstück, im Original ja die bekannte Michael-Frayn-Komödie, mag ein Klassiker sein – trotzdem ist diese Premiere keineswegs eine sichere Bank. Weil: So viel Farbe, so viel Tempo, so viel Schrilles gab’s vermutlich noch nie in Reckenfeld. Zugegeben: Ein paar Zuschauern ist das augenscheinlich etwas zu rasant, zu laut, zu flippig. Ohne Frage nicht nur eine innovative, sondern auch eine mutige Inszenierung von Regisseur Klemens Hergemöller – obwohl, Moment: Heißt der Regisseur nicht in Wahrheit Lloyd?

Denn die Story dreht sich ja um Theater im Theater: Sechs Schauspieler wollen ein absolut episches Werk namens „Nackte Tatsachen“ aufführen. Worum es da geht? Ähm, irgendein Quatsch mit einer windigen Hausvermietung, Sardinen, diversen Liebeleien und lauter Bekloppten.

Aber eigentlich auch wurscht – viel wichtiger ist, was der selbst ernannte Regie-Gott Lloyd (Patric Sohrt) und seine Crew draus machen. Erst mal nämlich nix: ein ramponiertes Bühnenbild, keiner kann den Text, einer hinterfragt sechs Stunden vor der Premiere plötzlich den in der Tat völlig sinnfreien Plot.

Und: „Wo ist eigentlich Selsdon?“ Selsdon (Toni Röhrig) hat wie immer einen im Tee, kommt viel zu spät – aber: spielt natürlich trotzdem. Ach was, alle spielen trotzdem: „So muss es mit der Kapelle auf der Titanic gewesen sein“, mutmaßt Lloyd.

Dann die Premiere nachmittags vor einer Horde Rentnern: „Beeilt Euch! Viele von denen haben nicht mehr viel Zeit“, lallt Selsdon. Die Bühne hat sich inzwischen um 180 Grad gedreht, der fürs Publikum sichtbare Teil spielt backstage: Dort ereignen sich zwischen den Akteuren – Brooke (Vanessa Binnewies), Dotty (Claudia Wehnhardt), Garry (Volker Hüntemeyer), Frederick (Fiet Krause), Belinda (Neele Niepel), Assistentin Poppy (Nathalie Dudenhausen) und Idiot-für-alles Tim (Jan Cunen) – schwere menschliche Dramen.

Für ihre Einsätze hetzen sie immer wieder durch acht Türen – jetzt, wo wir sie nur hören, merken wir erst, wie epochal die Dialoge der „nackten Tatsachen“ wirklich sind. Ist das ein Unsinn – aber: Ist das genial dargestellt! Kaum zu glauben, dass das alles nur Hobby-Schauspieler sein sollen. Perfektes Timing, grandios übertriebene Gestik und wahnsinnige Power – auch bei der Schlussszene, der letzten Aufführung der Tournee. Die dort passierenden Absurditäten werden an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Wir verstehen nix mehr – aber bitte spielt weiter! Große Teile des Publikums hüpfen hier gleich durchs Tribünendach. Um all die Details mitzukriegen, man müsste zweimal, zehnmal, nein im Prinzip hundertmal hingehen – na ja, immerhin acht Vorstellungen gibt‘s noch bis zum 31. August.